Rede zur Kreistagssitzung am 13.11.2020
Sehr geehrter Herr Vorsitzender, sehr geehrte Damen und Herren,
wieder einmal beschäftigt uns das Thema der Proteste gegen den Weiterbau der A49. Vieles ist dazu bereits gesagt worden und vordergründig scheint die Sache klar zu sein: ein langwieriges Verfahren führte zur letztendlich zur Findung einer Trasse, man plante Ausgleichsflächen für den Naturschutz ein, das Gesetzgebungsverfahren kam zum Abschluss und nun habe man sich eben mit dem Resultat abzufinden.
Man fühlt sich im Recht, das Ganze hatte lange genug gedauert und sei nach Recht und Gesetz nun endlich zur Umsetzung gebracht worden. Die jetzt stattfindenden Proteste scheinen in ihrer Hartnäckigkeit und teilweise auch in ihrer Militanz unverhältnismäßig.
Das die Sache doch nicht so sauber und gewissenhaft abgehandelt wurde, zeigte uns in der letzten Sitzung dankenswerterweise Rainer Nau von Bündnis90/Grünen. Was er da sagte ist inzwischen gerichtlich bestätigt.
Es wurde beim Gewässerschutz nicht das Erforderliche getan, die geplanten Maßnahmen sind unzureichend. In die gleiche Richtung äußerte sich ein Vertreter des Zweckverbandes Mittelhessische Wasserwerke in einer Sondersitzung des Ausschusses für Wirtschaft, Infrastruktur, Energie, Landwirtschaft und Umwelt am 10.11., der eine Beeinträchtigung des Trinkwassers durch den Autobahnbau befürchtet, das angesichts einer sich ohnehin abzeichnenden angespannter werdenden Situation bei der regionalen Trinkwasserversorgung. Es entstehen Gefahren für das Trinkwasser, dass der selbe Vertreter des Zweckverbandes als „blaues Gold“ und wertvollstes Gut bezeichnet hatte. Ich hatte diesen Tatbestand in der letzten Sitzung als Showstopper bezeichnet und sehe das weiterhin so.
Hier wird gegen die Grundlagen der Genehmigung des Baus der A49 verstoßen, damit kann nicht einfach weiter gebaut werden.
Anscheinend scheint der Schutz unseres wertvollsten und wichtigsten Lebensmittels in der derzeitigen hessischen Landesregierung keine ausreichende Priorität zu besitzen.
Will man die Situation wirklich verstehen, muss man aber noch einen Schritt zurück treten. Die Proteste im Danneröder Wald stehen nicht für sich allein, sie sind eingebunden in einen größeren Zusammenhang. Will man diesen verstehen, muss man über das große Ganze sprechen, muss diese Proteste einordnen in diesen größeren Zusammenhang.
Die Protestierenden tun das, sind vernetzt mit den Menschen, die im Hambacher Forst gegen die Vernichtung eines einmaligen Ökosystems den Ausbau des Kohletagebaus protestieren. Beide Situationen haben durchaus vergleichbare Aspekte. Schauen wir uns doch zunächst einmal an, was hinter den Forderungen der Protestierenden nach einem Baustopp steckt.
Dreh- und Angelpunkt ist die Forderung, die Klimaziele des Pariser Klimaabkommens ernst zu nehmen und ihnen die gebotene Priorität einzuräumen, ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen wirklich einzulösen.
Diese Klimaziele sind durchaus ehrgeizig und erfordern genau wie die derzeitigen Maßnahmen in der Pandemie beherztes engagiertes zielgerichtetes Eingreifen. Mit einem „weiter wie bisher“ werden wir diese Ziele nicht erreichen, wir gefährden die Lebensmöglichkeiten der nächsten Generationen und den Weltfrieden. Das ist alles nicht neu. 1972 bereits erschien der Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit „Die Grenzen des Wachstums“. Geändert hat das leider wenig, fast 50 Jahre später messen wir unseren Wohlstand immer noch an absolutem statt an qualitativem Wachstum. Jetzt ist die Uhr zum Handeln abgelaufen, das Festlandeis Grönland ist nicht mehr zu retten, wir verlieren einen Kipppunkt nach dem anderen, und immer noch bauen wir Braunkohle ab und setzen auf verbrennerbetriebenen Individualverkehr.
Es ist durchaus legitim, die Frage zu stellen, ob das Erschließen eines neuen Braunkohletagebaus oder der Bau einer neuen Autobahn in dieser Situation mit der Erreichung der Klimaziele vereinbar ist oder nicht vielmehr endlich damit zu beginnen wäre, eine Energie- und Verkehrswende umzusetzen, die auch den Nachgeborenen noch ein Leben in Frieden und Freiheit ermöglicht. Jegliches Projekt muss unter diesem Gesichtspunkt neu bewertet werden. Die Mehrheit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterstützt sowohl die Dringlichkeit als auch die Notwendigkeit zum Wandel. Damit muss man dem Protest in der Sache zugestehen, dass er berechtigt ist.
Immer dann, wenn berechtigter Protest nicht gehört wird, abgewiegelt wird, besteht die Gefahr, dass sich immer mehr Menschen radikalisieren, dass sie das Vertrauen in die Institutionen von Recht und Politik verlieren und zu Mitteln greifen, die wir nicht gut heißen können. Wenn unsere Demokratie die Existenzgrundlage der Menschheit nicht schützen kann, muss man dann nicht zu anderen Mitteln greifen? Ich stehe hier im Kreistag vor Ihnen, weil ich das nicht so sehe, weil ich unsere Demokratie als hohes und schützenswertes Gut begreife, weil ich möchte, dass auch spätere Generationen in Frieden und Freiheit leben. Wenn wir aber die Anliegen dieser Menschen mit Ignoranz, Basta-Politik und Repression beantworten, werden immer mehr Menschen das Vertrauen in unserer Demokratie verlieren.
Wir haben es in der Hand, ob wir eine lebendige demokratische Gesellschaft sind oder eine Mumie in einer Dystopie. Wir müssen die Forderungen der Menschen ernst nehmen, ernsthaft unsere Entscheidungen in Frage stellen. Gibt es neue Fakten, muss man neu aufrollen, egal wie lange man darüber schon gestritten hat. Wir müssen die Menschen abholen, die noch nicht radikalisiert sind, in einen Dialog mit Ihnen treten und dafür sorgen, dass ihre Forderungen gehört werden, dass sie nicht frustriert und radikalisiert werden. Das ist unsere Aufgabe hier und nicht die Be- oder Verurteilung von Menschen.
Deshalb bitte ich die Beamtinnen und Beamten der Polizei: beachten Sie bei der Erfüllung ihrer Pflicht immer, dass auf der anderen Seite Menschen mit einem legitimen Anliegen stehen. Tun sie ihre Pflicht, aber beachten Sie dabei die Verhältnismäßigkeit der Mittel, wirken Sie deeskalierend wo immer das möglich ist. Auch ihr Verhalten entscheidet mit darüber, ob ein Mensch auf dem Boden der demokratischen Auseinandersetzung bleibt oder sich radikalisiert, ob ein Dialog geöffnet oder geschlossen wird, ob ein Mensch produktives Mitglied unserer Gesellschaft bleibt oder sich abwendet.